Hilfe zur Selbsthilfe

verfasst von Prof. Dr. H. Geißler  am 07.10.2021

Eines der zentralen Merkmale von Coaching ist die Hilfe zur Selbsthilfe (Geißler 2018). Denn die grundlegende Aufgabe jedes Coachs ist besteht nicht nur darin, der Klientin bzw. dem Klienten bei der Lösung der Problematik wirksam zu helfen, und zwar ganz unabhängig von den Besonderheiten seiner/ihrer Persönlichkeit und auch ganz unabhängig von der jeweiligen Coachingthematik. - Das Entscheidende dabei ist: Diese Hilfe muss „Hilfe zur Selbsthilfe“ (Rauen, 2005, S. 112) sein.

 

Was aber ist das genau: Hilfe zur Selbsthilfe?

Von Hilfe kann man nur dann sprechen, wenn es um Aktivitäten geht, die auf Menschen ausgerichtet sind, die hilfsbedürftig sind. Das heißt, diese Menschen müssen ein Problem haben, unter dem sie leiden und bisher erfolglos nach einer Lösung suchen. Das heißt, es sind Menschen, die bisher nicht in der Lage sind, ihr Problem, unter dem sie leiden aus eigener Kraft, also mit den eigenen vorliegenden Ressourcen herbeizuführen. Das alleine reicht aber noch nicht aus für die Definition von Hilfe. Denn zu den genannten Merkmalen muss noch ein weiteres hinzukommen, nämlich der Wunsch, dass andere Aktivitäten anbieten und vollziehen, die geeignet sind, das vorliegende Problem zu lösen. Wenn dieser Wunsch nicht vorliegt, kann man nicht von Hilfe sprechen.

 

Bei der Selbsthilfe handelt es sich um eine spezielle Form der Hilfe. Für Selbsthilfe müssen deshalb prinzipiell alle Merkmale zutreffen, die oben identifiziert haben, um die Aktivität des Helfens zu klären. Das Besondere dieser Aktivitäten ist allerdings, dass die Person, die Hilfe anbietet und vollzieht, identisch ist mit der Person, die diese Hilfe braucht. Diese Besonderheit macht stutzig, denn eine solche Hilfe ist logisch betrachtet gar nicht möglich, weil sie in sich widersprüchlich ist, und zwar ähnlich wie die Rede von einem schwarzen Schimmel. Denn laut Definition sind Schimmel weiße Pferde, sodass es selbstwidersprüchlich ist, von schwarzen Schimmeln zu sprechen.

 

Dieses Problem führt zu der Erkenntnis, dass der Begriff der Selbsthilfe etwas voraussetzt, was man leicht übersieht, nämlich den zeitlichen Aspekt der Entwicklung. Den Begriff der Selbsthilfe können wir nämlich nur dann angemessen verstehen, wenn wir zwei unterschiedliche Zeitpunkte betrachten, nämlich zunächst den Zeitpunkt, an dem eine Person ein Problem hat, das sie lösen möchte, aber aktuelle noch nicht lösen kann. Besonders wichtig in diesem letzten Satz ist das Wörtchen noch, denn es deutet an, dass diese Ausgangslage verbessert kann. Hier nun gibt es zwei grundsätzliche Möglichkeiten, nämlich dass diese Verbesserung durch andere ursächlich herbeigeführt wird. Dann sprechen wir von Fremdhilfe. Oder sie wird von der hilfsbedürftigen Person selbst herbeigeführt. Dann sprechen wir von Selbsthilfe.

 

Auf dieser Grundlage wird deutlich, dass Hilfe zur Selbsthilfe eine spezielle Form der Fremdhilfe ist. Denn es ist eine Fremdhilfe, die nicht darauf zielt, stellvertretend für die Hilfe suchende hilfsbedürftige Person diejenigen Aktivitäten zu vollziehen, die eine Lösung ihres Problems bewirken. Es geht hier vielmehr um Aktivitäten, die ausschließlich darauf auf eine Entwicklung dieser Person zielen, und zwar auf eine Entwicklung, die diese Person befähigt, ihr Problem selbst zu lösen.

 

Zusammenfassend können wir deshalb feststellen, dass Hilfe zur Selbsthilfe –  und damit Coaching – folgende vier Merkmale aufweisen muss:

  • Der Coach muss mit Bezug auf die Hilfsbedürftigkeit der Klientin bzw. des Klienten erstens über geeignete Hilfemöglichkeiten verfügen und zweitens bereit sowie drittens auch in der Lage sein, gegenüber der Klientin bzw. dem Klienten die Rolle des Hilfe-Gebers einzunehmen.
  • Die Klientin bzw. der Klient muss erstens Hilfe bedürftig sein und zweitens grundsätzlich bereit sowie drittens auch in der Lage sein, die Rolle des Hilfe-Nehmers einzunehmen.
  • Die vom Coach angebotene Hilfe muss die Klientin bzw. den Klienten in die Lage versetzen, dass sie bzw. er erstens über erweiterte neue Hilfemöglichkeiten verfügt und zweitens bereit sowie drittens in der Lage ist, diese sich selbst gegenüber als Hilfe-Geber zu nutzen.
  • Die Klientin bzw. der Klient muss schließlich erstens bereit und zweitens in der Lage sein, die selbst generierte Hilfe als Hilfe-Nehmer anzunehmen und anzuwenden.

 Mit diesen Voraussetzungen wird erkennbar, was unbedingt zu vermeiden ist, nämlich:

  • Personen gegen ihre eigene Wahrnehmung als hilfsbedürftig zu erklären und ihnen einen Hilfe zu geben, die sie gar nicht wollen. Eine solche Hilfe ist entmündigend.
  • Personen eine ganz andere Hilfe zu geben, als sie haben wollen.
  • Hilfsbedürftigen ihre Probleme abzunehmen, sie dabei aber nicht zu befähigen, zu lernen, wie sie sich selbst helfen können.

Diese Merkmale stellen Coaching in die Tradition des Subsidiaritätsprinzips, die auf die Theologie des 16. Jahrhunderts zurückgeht und bis heute hohe Anerkennung vor allem im Bereich der Sozialpolitik und -arbeit (Nell-Breuning, 1990) wie auch des Rechts genießt (Riklin & Batlinger, 1994).

 

Hinsichtlich der subsidiär angebotenen Hilfe unterscheidet sich Coaching von den subsidiären Praxen im Bereich der Politik, Wirtschaft und Gesellschaft dadurch, dass Coaching keinerlei materielle, sondern mentale Hilfeleistungen anbietet.

Auf der anderen Seite unterscheidet sich die mentale Hilfe von Coaching aber auch von derjenigen, welche die Psychotherapie anbietet. Denn analog zur Medizin ist letztere eher auf die Heilung psychischer Störungen bzw. auf den Abbau eines entsprechenden Leidensdrucks ausgerichtet, was in der Regel zur Folge hat, dass zumindest in der Anfangszeit der Therapie die Therapeutin bzw. der Therapeut die Patientin bzw. den Patienten stärker anleiten muss und der Gesamtprozess vergleichsweise umfangreichere Behandlungszeiten beansprucht.

 

Coaching hingegen wendet sich an Menschen, die keine gravierenden psychischen Defizite aufweisen, sondern Hilfe für die Lösung tendenziell akzidentieller Probleme brauchen. Coachingprozesse zeichnen sich deshalb durch eine relativ partizipative Problemlösungskommunikation aus, in der Coach und Klientin bzw. Klient mehr auf „gleicher Augenhöhe“ miteinander arbeiten.

   

Literatur

Geißler, H. (2018). Organisationspsychologie III - Grundlagen Coaching. Was ist Coaching? Hamburg: Hamburger Fern-Hochschule

Nell-Breuning, O. (1990). Baugesetzte der Gesellschaft. Solidarität und Subsidiarität. Freiburg im Breisgau: Herder.

Rauen, C. (2005). Varianten des Coachings im Personalentwicklungsbereich. In C. Rauen (Hrsg.), Handbuch Coaching (3. Aufl., S. 111 – 136).Göttingen u. a.: Hogrefe.

Riklin, A. & Batlinger, G. (Hrsg.). (1994). Subsidiarität. ein interdisziplinäres Symposium. Vaduz: Lichterstein Politische Schriften 19.