Prozessberatung

verfasst von Prof. Dr. H. Geißler  am 22.10.2021

Eines der grundlegenden Merkmale von Coaching ist die Prozessberatung (Raddatz, 2006). Bei Bedarf kann und muss diese allerdings geringfügig durch Fachberatung angereichert werden (Geißler, 2017; Schreyögg, 2010).

Was aber ist das genau: Prozessberatung und Fachberatung?

Diese Frage lässt sich mit Hilfe von Edgar Schein (2000) beantworten, der Prozessberatung gegenüber zwei Varianten der Fachberatung abgrenzt. Die erste nennt er das „Expertenmodell“ bzw. das „Telling-and-Selling-Modell“ und die zweite ist das „Arzt-Patient-Modell“.

 

Das „Expertenmodell“ geht davon aus, das die Hilfe bedürftige Person hinreichend in der Lage ist, ihren Unterstützungsbedarf zu erkennen, diesen den Anbietern von Hilfe-Dienstleistungen zu kommunizieren, ihre Angebote fachkundig zu prüfen und das am besten passende auszuwählen und hinreichend gut zu nutzen.

Diese sehr weitgehenden Voraussetzungen sind im Coaching nicht oder nur in Ansätzen gegeben, denn aufgrund ihres „Bewusstseinsbreis“ haben Klientinnen und Klienten Probleme, ihren Unterstützungsbedarf hinreichen exakt zu erfassen.

Diese Ausgangslage lenkt den Blick auf das zweite Modell, das „Arzt-Patient-Modell“. Denn hier wird davon ausgegangen, dass die Hilfe suchende Person ihr Problem nur sehr vage erkennt und  zunächst einmal die diagnostischen Fähigkeiten einer Ärztin bzw. eines Arztes in Anspruch nehmen muss. Der dann folgende zweite Schritt besteht dann darin, dass die Ärztin bzw. der Arzt der Patientin bzw. dem Patienten eine Behandlung vorschreibt, der sie bzw. er sich unterwerfen muss, um ihr bzw. sein Problem zu lösen, d. h. wieder gesund zu werden.

Dieses Modell, an dem sich nicht nur die Medizin, sondern – mehr  oder weniger stark – auch  die Psychotherapie orientiert, ist für Coaching nicht akzeptabel, weil es die Problematik der Klientin bzw. des Klienten tendenziell sozialtechnologisch wahrnimmt, und zwar deshalb, weil der bzw. die Helfende autorisiert wird, im Wesentlichen alleine, also ohne weitgehende Mitbestimmungsmöglichkeiten der Patientin bzw. des Patienten sowohl ihren bzw. seinen Unterstützungsbedarf wie die Behandlungsmethoden zu identifizieren.

Diese Gründe sprechen für das dritte Beratungsmodell, die Prozessberatung, die Schein folgendermaßen definiert und beschreibt:

„Prozessberatung ist der Aufbau einer Beziehung mit dem Klienten, die es diesem erlaubt, die in seinem internen und externen Umfeld auftretenden Prozessereignisse wahrzunehmen, zu verstehen und darauf zu reagieren, um die Situation, so wie er sie definiert, zu verbessern.“ (Schein, 2000, S. 39)

 

Aus dieser Definition leiten sich für den Umgang des Coachs mit seinen Klientinnen und Klienten – und zwar Einzelpersonen wie auch sozialen Systemen – mehrere Handlungsempfehlungen ab, wie z. B. die Anerkennung, dass der Klient der alleinige Besitzer seines Problems und der zu entwickelnden Problemlösung ist. Weiterhin besonders erwähnenswert sind die folgenden Aufforderungen von Schein:

 

„Verliere nie den Bezug zu der aktuellen Realität.

Ich kann nicht helfen, wenn ich mir nicht über die Realität im Klaren bin, d. h. darüber, was in mir und im System des Klienten vorgeht. Daher sollte jeder Kontakt zu jedem Angehörigen des Klientensystems sowohl für den Klienten als auch für mich weitere Informationen liefern zur Diagnose des aktuellen Standes des Klientensystems und zu der Beziehung zwischen dem Klienten und mir.“ (Schein, 2000, S. 25)

 

„Setze dein Nichtwissen ein.

Ich kann meine innere Realität nur entdecken, wenn ich zu unterscheiden lerne zwischen dem, was ich weiß, dem, was ich zu wissen glaube, und dem, was ich wirklich nicht weiß. Ich kann nicht entscheiden, was die aktuelle Wirklichkeit ist, wenn ich spüre, was mir über die Situation nicht bekannt ist, und ich nicht so weise bin, mich danach zu erkundigen.“ (Schein, 2000, S. 30)

 

„Alles, was du tust, ist eine Intervention.

So wie jede Interaktion diagnostische Informationen liefert, so birgt jede Interaktion Konsequenzen für den Klienten und für mich. Daher muss ich für alles, was ich tue, Verantwortung übernehmen und die Konsequenzen durchdenken, um sicherzustellen, dass sie meinem Ziel dienen, eine helfende Beziehung aufzubauen.“ (Schein, 2000, S. 37)

 

„Das Problem und seine Lösung gehören dem Klienten.

Meine Aufgabe ist es, eine Beziehung aufzubauen, in der der Klient Hilfe findet. Es ist nicht meine Aufgabe, mir die Probleme des Klienten selbstaufzuladen, noch ist es meine Aufgabe, Rat und Lösungen für Situationen anzubieten, die ich nicht selbst durchlebe. Fakt ist, dass nur der Klient mit den Folgen des Problems und der Lösung leben muss, ich ihm also nicht die Verantwortung dafür abnehmen kann.“ (Schein, 2000, S. 39)

 

„Alles liefert Daten; Fehler wird es immer geben, sie sind die wichtigste Quelle neuer Erkenntnisse.

Wie sorgfältig ich auch die hier genannten Prinzipien beachte, ich werde dennoch das eine oder andere tun oder sagen, das zu unerwarteten und unerwünschten Reaktionen seitens des Klienten führt. Aus diesem muss ich lernen und um jeden Preis eine Abwehrhaltung, Scham- oder Schuldgefühle vermeiden. Ich kann nie genug über die Wirklichkeit des Klienten wissen, um Fehler vollkommen ausschließen zu können. Doch Fehler führen zu Reaktionen, aus denen ich wiederum sehr viel über die Wirklichkeit des Klienten lernen kann.“ (Schein, 2000, S. 73)

 

„Teile im Zweifelsfall das Problem mit anderen.

Ich befinde mich oft in der Situation, dass ich nicht weiß, was ich als nächstes tun soll, welche Art von Intervention angemessen ist. In solchen Situationen hilft es häufig, das Problem mit dem Klienten zu teilen und ihn in die Entscheidung über den nächsten Schritt einzubinden.“ (Schein, 2000, S. 80)

 

Mit Blick auf das konkrete Kommunikationsverhalten bedeutet das:

·      Fachberaterinnen bzw. Fachberater, die dem oben angesprochenen „Expertenmodell“ bzw. „Arzt-Patient-Modell“ folgen, benutzen für ihre Fachberatung vor allem instruktionalische Sprechakte, mit denen sie ihren Adressaten ihr Fachwissen, also allgemeingültiges Wissen und fallspezifisches Erfahrungswissen und die damit verbundenen fachlichen Bewertungen vermitteln.

 ·      Prozessberaterinnen bzw. Prozessberater hingegen bevorzugen facilitative Sprechakte, mit denen sie ihre Adressaten anregen, bestimmte Problemlösungsaktivitäten zu vollziehen, also vor allem reflexionsanregende Fragen und Spiegelungen, also strukturierte Zusammenfassungen dessen, was sie gehört haben – verbunden mit der Bitte, zu überprüfen, ob sie  richtig verstanden wurden.

 

In einer empirischen Untersuchung der Kommunikation zwischen Coaches und Klientinnen bzw. Klienten stellte sich heraus, dass 75 % aller Sprechakte der untersuchten Coaches facilitativ waren (Geißler, 2017, S. 307).

  

Literatur

 

Geißler, H. (2017). Die Grammatik des Coachens. Wiesbaden: Springer

Geißler, H. (2018). Organisationspsychologie III - Grundlagen Coaching. Was ist Coaching? Hamburg: Hamburger Fern-Hochschule

Geißler, H. & Rödel, S. (2023). Praxishandbuch professionelles Online-Coaching. Weinheim, Basel: Beltz

Raddatz, S. (2006). Einführung in das systemische Coaching. Heidelberg: Carl-Auer.

Schein, E. (2000). Prozessberatung für die Organisation der Zukunft. Köln: EHP Verlag.