verfasst von Prof. Dr. H. Geißler am 07.10.2021
Eines der grundlegenden Merkmale von Coaching ist der Aufklärungsdialog, d.h. die kooperative Bewusstseinsklärung bzw. Selbstaufklärung des/der Coachee im Dialog mit dem Coach.
Eine solche Aufklärung ist ein konstitutives Merkmal von Coaching, weil Coachees nur dann Coaching nachfragen, wenn sie ein
Problem haben, das sie aus eigener Kraft nicht lösen können. Zumindest zu Beginn des Coachings muss deshalb davon,
souverän über ihr Problem zu sprechen, und zwar deshalb, weil sie ja noch mitten in diesem Problem stecken (Backhausen &
Thommen, 2003, S. 92 – 96; Eidenschink, 2006).
Die Folge ist ein „Bewusstseinsbreis“, der darin besteht, dass die Klientin bzw. der Klient nicht genau erkennen kann, was sein/ihr Problem genau ist.
Das konzeptionelle Gegenstück zum „Bewusstseinsbrei“ der Klientin bzw. des Klienten ist das Problembewusstsein der bzw. des hinreichend aufgeklärten Klientin bzw. Klienten. Dies zeichnet sich dadurch aus, dass sie bzw. er in der Lage ist, ihr bzw. sein Wissen über ihre bzw. seine Coachingproblematik, d. h. über die drei Problembereiche, die für jede Problematik konstitutiv sind, also über die gewünschte Soll-Situation, über die vorliegenden und zu erwartenden Ist-Situation und über die zielführenden Handlungen hinreichend differenziert wahrzunehmen und zu kommunizieren.
Bei dieser Fähigkeit handelt es sich um eine metakognitive Fähigkeit. Denn es geht hier um die Wahrnehmung und kommunikative Vermittlung von Inhalten bzw. Referenzbereichen, die sich auf eigene mentale, d. h. kognitive und auch emotionale Bedingungen und Prozesse beziehen.
Im Einzelnen heißt das Folgendes:
Damit wird deutlich, wie wichtig es für den Problemlösungsprozess der Klientin bzw. des Klienten ist, dass sie bzw. er alle ihre bzw. seine Bewusstseinselemente, die ihr bzw. sein aktuelles Problemlösungsbewusstsein bestimmen, hinreichend klar erkennt und sich nicht mit einem „Bewusstseinsbrei“ zufrieden gibt, der aus Bewusstseinsinhalten besteht, die nur recht verschwommen bzw. schemenhaft wahrgenommen werden und damit ein zweifelhaftes Fundament sind für alle auf ihnen aufbauenden Denk- und Problemlösungsprozesse sowie für die aus letzteren sich ergebenden Analyseergebnisse und Handlungskonsequenzen.
Diese Zusammenhänge versucht die folgende Abbildung zu verdeutlichen.
Denn die Probleme, welche die Klientin bzw. der Klient hat, entstehen an der Naht- bzw. Übergangsstelle von der vorliegenden Wirklichkeit zur Repräsentation dieser Wirklichkeit im Bewusstsein der Klientin bzw. des Klienten. Dieser Übergang ist gekennzeichnet durch eine notwendige Selektion. Denn die Klientin bzw. der Klient kann nicht alle Daten ihrer bzw. seiner Wirklichkeit aufnehmen. Das würde sie bzw. ihn völlig überfordern. Sie bzw. er muss sich deshalb auf diejenigen beschränken, die für sie bzw. ihn wichtig sind. Die so ausgewählten Daten sind die Referenzpunkte für die Generierung entsprechender Bewusstseinselemente, die anschließend mental bearbeitet werden, um geeignete Handlungspläne und -entschlüsse hervorzubringen, die dann anschließend in die Tat umzusetzen sind. Der Kreis schließt sich, indem die so generierten Handlungen auf die vorliegende Wirklichkeit einwirken und sie verändern – und zwar im Guten oder Schlechten. Denn die Handlungen der Klientin bzw. des Klienten können zur Lösung oder zur Verstetigung, d. h. Verfestigung, Verschärfung, Verschleierung oder Verschiebung ihrer bzw. seiner Problematik beitragen.
Abb.: Der sich selbst reproduzierende Kreislauf weithin ungeprüfter Überzeugungen bzw. Selbstverständlichkeiten als Quelle für die Unlösbarkeit von Problemen
Im Mittelpunkt derartig falscher Lösungsstrategien stehen mentale Prozesse, die in der obigen Abbildung grau eingefärbt sind und als „Bewusstseinsbrei“ ausgewiesen sind. Es handelt sich um den selbst reproduzierenden Kreislauf weithin ungeprüfter Überzeugungen und Selbstverständlichkeiten als Quelle für die Unlösbarkeit von Problemen.
Um diesen „Bewusstseinsbrei“ aufzulösen, bieten sich zwei konzeptionelle Vorstellungen bzw. Theorieansätze an (Arnold & Siebert, 1995):
Mit Blick auf diese beiden erkenntnistheoretischen Positionen spricht vieles dafür, im Coaching die Position des erkenntnistheoretischen Konstruktivismus einzunehmen. Aus diesem Grunde muss der Coach die Erkenntnis der vorliegenden Klientenproblematik – und in diesem Zusammenhang auch die Problematik des oben umrissenen „Bewusstseinsbreis“ – ganz in die Hand der Klientin bzw. des Klienten geben und ihr bzw. ihm helfen, sie Schritt für Schritt selbst zu rekonstruieren.
Literatur
Bachkirova, T., Cox, E. & Clutterbuck, D. (2010). Introduction. In E. Cox, T. Bachkirova & D. Clutterbuck (Hrsg.), The complete handbook of coaching (S. 1 – 20). London: Sage.
Greif, S. (2008). Coaching und ergebnisorientierte Selbstreflexion. Göttingen u. a.: Hogrefe
Greif, S., Möller, H. & Scholl, W. (2018). Coachingdefinitionen und -konzepte. In S. Greif, H. Möller & W. Scholl (Hrsg.), Handbuch Schlüsselkonzepte im Coaching (S. 1 – 9). Wiesbaden: Springer.
Geißler, H. (2018). Organisationspsyhologie III - Grundlagen Coaching. Was ist Coaching? Hamburg: Hamburger Fern-Hochschule
Grant, A. M. & Stober, D. R. (2006). Introduction. In D. R. Stober & A. M. Grant, (Hrsg.), Evidence based coaching: Putting best practices to work for your clients (S. 1 – 14). New Jersey: Wiley and Sons.
Rauen, C. (2005). Varianten des Coachings im Personalentwicklungsbereich. In C. Rauen (Hrsg.), Handbuch Coaching (3. Aufl., S. 111 – 136).Göttingen u. a.: Hogrefe.
Whitmore, J. (1992). Coaching for Performance. London: Nicholas Bearley.