verfasst von Prof. Dr. H. Geißler am 28. 07. 2023
Unsere menschliche Intelligenz beruht auf einem wunderbaren Zusammenspiel von Emotion und Rationalität. Unser emotionales SELBST und unser rationales ICH arbeiten Hand in Hand (Kuhl, 2010). Ihre wechselseitig abgestimmte komplexe Zusammenarbeit ermöglicht es uns, eine enorme Bandbreite an Informationen aufzunehmen und sinnvoll zu verarbeiten, und zwar auf einer Ebene, die sowohl rational als auch emotional-motivational ist.
Im Kontrast dazu fokussiert Künstliche Intelligenz (KI) ausschließlich auf die rationalen Aspekte des Denkens, denn die aufgenommenen Informationen werden ausschließlich mithilfe vorprogrammierter Algorithmen verarbeitet. D.h. KI ist nicht in der Lage, selbst individuelle Erfahrungen zu machen, sich für bestimmte Werte zu entscheiden und die eigenen normativen Vorannahmen zu reflektieren. Bei KI ist die Analyse aller Informationen bzw. Texte rein statistisch, eine Interpretation findet ausschließlich unter dem Aspekt der Logik statt.
Wenn wir KI im Coaching einsetzen, müssen wir diese Unterschiede berücksichtigen. Einerseits bringt KI enorme Vorteile: Sie kann sehr große Informationsmengen aufnehmen und verarbeiten - und das schneller als unser menschliches Gehirn. Dies kann im Coaching genutzt werden, um kreative Prozesse anzustoßen und kritische Überprüfungen zu unterstützen.
Andererseits hat KI Grenzen. Sie verfügt nicht über emotionale Intelligenz. Wenn Gefühle, also persönliche Anteilnahme, gezeigt werden, ist das niemals authentisch, sondern immer künstlich hergestellt. Darüber hinaus hat KI auch Probleme, einzelne Informationen in lebensgeschichtliche Kontexte einzubetten und persönlich tiefgreifender zu verstehen. Aus diesem Grunde sind auch ethische Reflexionen nicht möglich. Diese Bereiche können nur von einem menschlichen Coach abgedeckt werden.
Double-Loop Learning, in dem Coachees ihre zugrunde liegenden Werte und Vorannahmen reflektieren, kann deshalb nicht durch KI unterstützt werden. Denn KI-Lernen beschränkt sich Single-Loop Learning, bei dem die Coaching-Ziele der Coachees nicht problematisiert werden.
Unter Berücksichtigung dieser Stärken und Schwächen kann KI im Coaching als ein spezielles Coaching-Problemlösungsmedium genutzt werden, und zwar zum einen bei der Analyse von Coachingproblematiken und der Entwicklung nachhaltiger Lösungen und zum anderen als konsequenter Trainingspartner bei der Umsetzung der erarbeiteten Strategien und Schritte (Clutterbuck, 2022; Ellis-Brush, 2021; Terblanche, 2020).
Indem wir KI auf diese Weise nutzen, können wir das Beste aus beiden Welten nutzen - die beeindruckende Datenverarbeitungsfähigkeit der KI und die unvergleichliche emotionale Intelligenz des menschlichen Gehirns.
Literatur
Clutterbuck, D. (2022). The Future of AI in Coaching. In: S. Greif, H. Möller, W. Scholl, J. Passmore & F. Müller (Eds.) International Handbook of Evidence-Based Coaching (369-380), Wiesbaden: Springer
Ellis-Brush, K. (2021). Augmenting Coaching Practice through digital methods. In: International Journal of Evidence Based Coaching and Mentoring, pp.187-197. DOI: 10.24384/er2p-4857
Kuhl, J. (2010). Lehrbuch der Persönlichkeitspsychologie. Göttingen u.a.: Hogrefe
Terblanche, N. (2020) 'A design framework to create Artificial Intelligence Coaches'. In: International journal of evidence based coaching and mentoring, 18(2), pp.152-165. DOI: 10.24384/b7gs-3h05.